Ahlam Shibli احلام شبلي

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© Ahlam Shibli
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Ahlam Shibli — TRACKERS

Ein Erfahrungsdokument

Jean-François Chevrier, 2007



Fremdheit ist das Prinzip, das der Reportage und der Untersuchung gemein ist. Das englische Verb to report, von dem das französische Reportage stammt, betont den fertigen Bericht, doch vorher hat bereits ein Prozess des Untersuchens stattgefunden. Der Begriff der Ermittlung hebt das Befragen hervor, auf dem die Tätigkeit des Reporters beruht. Ein Gefühl der Fremdheit treibt die Untersuchung an, wenn sie als Begegnung mit einer latenten Wahrheit verstanden wird. Im Kriminalroman besteht diese Wahrheit im Entziffern von Indizien, aus denen sich Hypothesen aller Art entwickeln. Noch bevor Freud auf die Analogien zwischen der Struktur des Mythos mit einem zentralen Rätsel (Oedipus) und der Untersuchung der Familienromanze des neurotischen Patienten verwies, hatte die Detektivgeschichte (Edgar Allan Poe) bereits eine experimentelle oder spekulative Form der Psychologie eingeführt; diese erweiterte die Mechanismen der induktiven Interpretation, indem sie die Funktionsweise von Geheimnis und Andersartigkeit in der offensichtlichen und doch rätselhaften Realität aufdeckte. Die Erfahrung der Andersartigkeit ist ein Kernelement ethnographischer Beobachtung. Wie die Veröffentlichung von Malinowskis Tagebuch gezeigt hat, das dieser während seines Aufenthalts auf den Trobriand-Inseln 1917/18 führte, ist die Felderfahrung weder Priesteramt noch Selbstaufgabe in der Erfahrung von Kommunion mit dem Exotischen. Der Exotismus verstärkt eine innere Distanz und stellt die Unkenntnis seiner selbst dem im Feld erlangten Wissen gegenüber. Die Neugierde des Ethnologen, die von der Schönheit der, wilden' Welt noch überhöht wird, ist Motor ihrer selbst und hält so eine irreduzible Ambivalenz zwischen Anziehung und Abscheu aufrecht. Malinowski denkt permanent über sein Liebesleben im Westen nach; ihn plagt die Angst, dem Objekt der Begierde aus der Ferne nicht treu sein zu können. Nachdem er sich wieder einmal ermahnt hat, seiner erwählten Liebe treu zu sein, schreibt er: "Was die Ethnologie angeht, so sehe ich das Leben der Eingeborenen als völlig uninteressant und unwichtig an, es ist mir so fremd wie das Leben eines Hundes."[1]

Ahlam Shiblis Reportage über die Militärausbildung palästinensischer "Tracker" oder Spurenleser, die in der israelischen Armee dienen, verströmt ein Gefühl der Gleichgültigkeit oder sogar Gelassenheit, das sie anscheinend vor der Malinowskischen Ambivalenz geschützt hat. Als Palästinenserin beduinischer Herkunft mit israelischer Staatsbürgerschaft ist sie gegen die Politik der Unterdrückung ihres Volkes durch den jüdischen Staat und kann den Verrat angehender Spurenleser nicht gutheißen. Jedoch findet sich in ihren Bildern kein Zeichen dieser Opposition, oder zumindest keines, das ich klar als solches entziffern könnte. Gequält von der Angst über sein Sexualleben schwankt Malinowski ständig zwischen Anziehung zu und Abscheu vor einheimischen Frauen – und Männern. Ahlam Shiblis Situation ist natürlich eine andere: Sie ist nicht in eine exotische Kultur eingetaucht; die Gruppe, auf die sich ihre Untersuchung konzentriert, besteht aus Landsleuten und in einigen Fällen sogar aus jungen Leuten aus ihrem Dorf. Aber dennoch sind ihre Bilder, verglichen mit den Tropismen des Ethnologen, merkwürdig zurückhaltend, was eine mögliche Form der Verführung angeht. Was sie antreibt, ist kein ‚lauterer' Grund: Keine Untersuchung ist völlig frei von Neugierde, und im Bereich des Visuellen appelliert die Untersuchung an einen Beobachtungsinstinkt, dessen spektakulärste Form der Befriedigung der Voyeurismus ist. Doch entgegen den von den Medien konditionierten Sehgewohnheiten vermeidet Ahlam Shibli sowohl Voyeurismus wie auch eine wertende Position.

Ihr kam es offensichtlich darauf an zu verstehen, und das heißt zunächst einmal zu sehen, wer diese jungen israelischen Bürger sind, die der Minderheit beduinischer Herkunft angehören und die sich in den Dienst einer dominierenden, repressiven Mehrheit stellen. Aber zu verstehen heißt nicht zu billigen. Außerdem ist diese Art von Verstehen, die über das Auge geschieht und sich auf Bilder beschränkt, eben nicht die einer ‚objektiven' wissenschaftlichen Untersuchung, die – wie man in Malinowskis Tagebuch sieht – von der Subjektivität des Forschers konterkariert wird. Man kann die zwei Gesichter der Reportage gar nicht genug hervorheben: Die Beschreibung setzt eine Arbeit an sich selbst voraus, eine Distanzierung, die mit dem ‚Sich Lösen' vom Subjektiven beginnt. Dieses Bemühen muss in den Bildern sichtbar sein und bestimmt in Teilen sogar ihre Qualität. Der/die Fotograf/in ist automatisch in der Position eines Zeugen, selbst wenn er oder sie die Rolle des professionellen Zeugen, wie ihn die Medien definieren, ablehnt. Die Feldforschung stellt die fließenden Grenzen von Zeugenaussage und damit einhergehender Subjektivität auf den Prüfstand. Durch Bilder zu verstehen, bedeutet, zu, fassen', was passiert: Vision ist ein Festhalten von Gesehenem. Allein die umgekehrte Bewegung ist nötig: Wer sich um Verständnis bemüht, muss den Einfluss des Blickes unterbrechen. Es reicht nicht, eine Poetik der Vision (oder, in John Bergers Worten, Arten des Sehens) der Produktion von Information gegenüberzustellen. Bedingt durch eine Ideologie, die sich auf ein dominierendes und herrschsüchtiges, Subjekt' gründet, reproduziert der, subjektive' Blick allzu oft die reduzierenden Mechanismen der Aneignung. Sich von sich selbst zu lösen [se déprendre de soi] – wie Michel Foucault sagt – ist die Vorbedingung für eine beschreibende Genauigkeit, die keine wissenschaftsgläubige Haltung garantieren kann. Malinowskis Tagebuch gibt den Blick frei auf das Netz von Mehrdeutigkeiten, das dem Kriterium anthropologischer Objektivität widerspricht. Man kann Pressefotografie mit der Disziplin der Anthropologie vergleichen, jedoch muss sie ihrerseits in ihren Diskurs ein Bemühen um Subjektivierung integrieren, eine Umwandlung des subjektiven Gesichtspunkts, es sei denn, man erhofft sich einen Blick von außen, der den Beitrag in seinen Kontext stellt. Für einen Künstler, der im politischen Tagesgeschehen arbeitet, ist nichts gefährlicher, als in Begriffen von Kunstwerk und Kontext zu denken. Die Reportage von Ahlam Shibli kommt ohne zusätzliche Informationen aus. Sie wird je nach Interesse des Betrachters unterschiedliche Kommentare auslösen, und dennoch hat sie eine Autonomie, die sie von historischen oder anthropologischen Dokumenten unterscheidet.

Der Kontext, in dem Trackers produziert wurde, und der Kontext, in dem die Serie von Fotos gesehen wird, sind indessen alles andere als unwichtig. Der fotografische Blick ist nie neutral. Der Begriff der Neutralität ist mehrdeutig; er kann sich auf eine Haltung beziehen, die einen ideologischen Rückzug oder gar Gleichgültigkeit gegenüber dem Tagesgeschehen ausdrückt, oder aber auf ein mehr oder weniger berechnetes Schweigen und Sich-Enthalten allen Urteils. Auf jeden Fall zeigen Ahlam Shiblis frühere Arbeiten, dass sie niemals davon geträumt hat, eine Maschine oder Assistentin einer Maschine zu sein und dass sie immer einen persönlichen Gesichtspunkt vertreten hat. Sich für neutral zu erklären, wo bewaffnete Konflikte die Völker auf israelisch-palästinensischem Boden zu Feinden werden lassen, ist ohnehin ein frommer Wunsch, der einen unerträglichen Status quo verlängert. Dass Shibli sich in Trackers allen Urteils enthält, spricht für die Ehrlichkeit ihrer Beobachtung; diese Position war unvermeidbar unter Umständen, die einen völlig emotionsfreien Blick erfordern, aber sie wird dennoch nicht als subjektive Lösung präsentiert. Dieser emotionsfreie Blick passt zu der Tendenz zur Versachlichung, die die deskriptive, post-konzeptuelle "fast dokumentarische" Fotografie (Jeff Wall) prägt. Aber Ahlam Shibli wandelt eine notwendige Distanz nicht in eine ästhetische Norm um. Die grauen Bilder von Goter, die berauschend und gedämpft, klar umrissen und gespensterhaft zugleich sind, beweisen in meinen Augen, dass der lyrische Stil in der Fotografie, so verarmt oder verborgen er in der zeitgenössischen Kunst auch sein mag, nicht notwendigerweise auf den privaten Bereich beschränkt ist (der sich vom öffentlichen absetzt und von ihm zugleich geschützt wird); er kann ein Territorium sichtbar machen und beschreiben, wie eine historische Gemeinschaft lebt; und er kann eine Wirkung auf das Tagesgeschehen haben, ohne demonstrativ aufzutrumpfen.[2] Trackers ist eine neue Manifestation eines solchen lyrischen Stils, der sich einer unerwünschten Realität gegenüber sieht; als Reportage konzipiert, stellt diese Serie ihren Informationsgehalt scharf auf die Probe.

Die Illusion von Neutralität wird häufig mit einem vorsätzlich unpersönlichen Standpunkt verwechselt. Jedoch ist letzterer eine formale Wahl, die einer anti-expressiven oder rhetorischen Haltung entstammt. Im Fall der Künstler der 60er-Jahre, die sich in Abgrenzung zu den lyrischen Improvisationen und Gebärdenzwängen des Abstrakten Expressionismus und der Informellen Kunst definierten, ist dies deutlich erkennbar. Die politische Bedeutung einer solchen Wahl variiert je nach Kontext, wenn man sie überhaupt jemals klar identifizieren kann. Doch eins ist gewiss: So wirksam Unpersönlichkeit auch sein mag in Bereichen, in denen Beobachtung wichtiger ist als Beteiligung, so unhaltbar ist sie in interaktiven Situationen wie zum Beispiel der Reportage. Ahlam Shibli hat junge palästinensische Rekruten in einem israelischen Ausbildungslager fotografiert, ohne eine‚ persönliche' Beziehung zu ihnen aufbauen zu wollen. Sie präsentiert sie nicht als ‚Individuen', und sie verleiht ihnen keine Stimme. Ihre Haltung scheint der Ethik des Neorealismus zu widersprechen, wie sie vom Schriftsteller und Drehbuchautor Cesare Zavattini, dem Autor – zusammen mit Paul Strand – von Un Paese (1955), definiert wurde. Im Gespräch mit einem Bewohner von Luzarra – seinem von Strand fotografierten Heimatdorf – erklärt Zavattini: "Stell Dir vor, ich will von den Ereignissen Deines Tages berichten, von Dir als Arbeiter, nun, dann betrachte ich Dich, ich beobachte Dich, ich brauche eine ganze Weile, um Deinen Tageablauf zu verstehen und zu beschreiben, ich nehme mir Zeit, ich beobachte aufmerksam, wie eine Person lebt – und wie sollte ich Dich nach all der Anstrengung nicht Antonio nennen, warum sollte ich Dich stattdessen Paolo nennen? Der Neo-Realismus setzt niemals eine Person an die Stelle einer anderen."[3] Ahlam Shibli verweigert sich diesem Prinzip, und doch präsentiert sie jedes von ihr fotogra-fierte Individuum gezwungenermaßen in personam vor der Linse (auch wenn diese Personen auf ihre individuelle Persönlichkeit verzichtet haben sollen). Außerdem versucht sie nicht, Typen zu isolieren, sondern sie fotografiert einzelne Individuen in einer Situation. Diese Herangehensweise scheint mir einer der Schlüssel zu ihrer Position zu sein, wie bereits Ulrich Loock betont hat. Shibli wollte nicht mit den jungen Soldaten sprechen, doch sie hat die Familien verschiedener Rekruten getroffen, um ihre Herkunft und ihre Entscheidung für den Eintritt in die israelische Armee zu verstehen.

Vor Trackers zeigten Unrecognized und Goter bereits den prekären Lebensraum dieser Soldaten, das Gebiet von Beduinendörfern unter israelischer Kontrolle. Wie der Titel andeutet, beschreibt Unrecognized eines von 179 Palästinenserdörfern in Galiläa und der Naqab (Negev), die von Israel (seit 1948), nicht anerkannt' werden. Seine Bewohner sind Bürger zweiter Klasse mit eingeschränkten Rechten, die zu einer prekären Existenz verurteilt sind. Es ist ihnen untersagt, Massivbauten zu errichten, sie haben noch nicht einmal Zugang zu den grundlegendsten Dienstleistungen, die für Vollbürger selbstverständlich sind.[4] Goter verlagert das Augenmerk der Untersuchung in den Süden des Landes, in die Negev-Wüste, und erweitert zudem den Blickwinkel: Die Aufnahmen von Dörfern ähnlich derer in Unrecognized werden ergänzt von Fotos von Getto-Siedlungen (townships), in denen die israelische Regierung in den 60er-Jahren die beduinische Bevölkerung der Region ansiedeln wollte. Für diese Arbeit, die fast ausschließlich aus Schwarz-WeißAufnahmen besteht, hat die Künstlerin aus großer Ferne mit Weitwinkel fotografiert, um zu zeigen, wie Angehörige einer Nomadenkultur, denen das Recht auf das Gebiet ihrer Vorfahren seit der Zeit des britischen Protektorats verwehrt wird, Raum erfahren und (er)leben. Goter beschreibt präzise und idealisiert eine politische Landschaft, und diese beiden Merkmale werden durch die Einfarbigkeit noch betont. Die Serie stellt weniger einen Protestakt dar als ein überlegtes Werk von Dauer, das sich auf seine Art am Überlebenskampf eines Volkes beteiligt. Die auf einen bloßen Unterschlupf, eine Baracke reduzierte Wohnung – Ahlam Shibli unterscheidet zwischen Heim und Haus – ist ein Bild der Enteignung, ein Bild des gespenstischen, seiner Substanz entleerten Körpers. Aber dieses Bild, das durch die Fotografie materiell wird, drückt auch ein anachronistisches – und zerstörtes – Ideal nomadischer Mobilität aus, das im Widerspruch steht zu den Identitätsfixierungen, die im Wesen der Verwurzelung liegen. Wie viele zeitgenössische Werke stellt Goter so der Kontemplation die Ironie der Ernüchterung gegenüber. Diese Ernüchterung entspringt vor allem der Kapitulation vor der faktischen Komplexität (die gleichwohl Anspruch auf Klarheit erhebt); für sie reduzieren sich Idealisierungsprozesse auf den vieldeutigen Charme des Kitsches. Es ist auch der Realismus einer alltäglichen, improvisierten Umgebung in dürrer Wüstenlandschaft, der mit der sublimen Leere kontrastiert, welche von der zionistischen Mythologie – das Land des auserwählten Volkes – gerühmt wird.

In Trackers wagt Ahlam Shibli, die Landschaft schaffende Distanz zu brechen, indem sie sich ihren Subjekten stärker als jemals zuvor annähert. Außerdem hatte sie männliche Figuren bis dahin vermieden oder auf Distanz gehalten. Das emblematische Bild von Unrecognized ist für sie das Porträt einer Frau, die vor einer mit einer riesigen Blume verzierten Wand aus Wellblech sitzt und selbstsicher in die Kamera blickt.[5] Die palästinensische Gesellschaft ist patriarchalisch, und Männer haben – so schreibt es die Ideologie nationaler Befreiung vor – die Rolle des Kämpfers zu spielen. Shibli betreffen diese unterschiedlichen Rollen von Männern und Frauen in der Definition ihrer künstlerischen Verantwortung sehr; sie drückt ihren Kampf jedoch in anderen Begriffen aus. Sie benutzt ein Register, in dem die Politik nicht von poetischen Alltagsdarstellungen getrennt werden kann; die Vorstellungskraft ähnelt dabei der Macht von Müttern zu Hause. Hiermit verbunden ist ihr Interesse an Kindheit. Self Portrait ist die Fabel einer neu erfundenen Kindheit in einer vertrauten Landschaft von Legenden. Im Gegensatz zu diesem "grünen Paradies der Kindheitsleidenschaften" (Baudelaire) ist die Umgebung von Trackers eine Art Rückkehr in die Realität oder eine Wiederaufnahme des Realitätstests: ein Frontalblick auf junge Erwachsene, die kaum aus der Teenager-Zeit heraus sind und ihre Identität in Machtspielen suchen. Das Ausbildungslager mag manchmal palästinensischen Dörfern ähneln, die ihrerseits Lagercharakter haben. Aber dort hört die Ähnlichkeit auf. Die Welt des Lagers ist männlich, außer wenn Familien kommen, um an der Abschlussfeier teilzunehmen. Gesten und Haltungen werden von der Militärausbildung diktiert. In Momenten der Untätigkeit überlassen sich die Körper dem Schlaf. Der Ausbilder, der auf einem langen Stock lehnt und die Schießübung überwacht – das können wir zumindest aus dem Stöpsel in seinem rechten Ohr folgern –, ist der typische Vertreter disziplinärer Autorität.

Diesen Bildern fehlt jede Spur von Heroismus. Das auffälligste Foto der ersten Sequenz ist das eines jungen Soldaten, der leicht vornüber gebeugt vorsichtig vorrückt und eine Granate in der Hand hält. Für Unrecognized ist Ahlam Shibli zunächst in das Leben des Dorfes eingetaucht und hat erst dann begonnen zu fotografieren. Um nicht ins Pittoreske zu verfallen, hat sie jeglichen Kommentar vermieden und stattdessen Intensität oder bildliche Kondensation gesucht, um so die Dichte gelebter Erfahrung den prekären Lebensbedingungen im Dorf gegenüberzustellen. Beim Thema der Spurenleser in Trackers ging sie anders vor, da sie mit den jungen Soldaten weder sympathisieren konnte noch wollte. Ausgangspunkt war ein Drehbuch. Sie definierte die verschiedenen Phasen und Orte der Untersuchung. Nach einer ersten, eher kurzen Sequenz über Trainingsstunden verlässt Shibli das Lager, um die Orte und Familien zu besuchen, aus denen die in der israelischen Armee dienenden Palästinenser stammen. Hier erkennt man, wie sehr die Erzählung – und das gilt für jede Erzählung, egal ob in Worten oder in Bildern – in dieser Region der Welt ein geopolitisches Statement ist; sie ist eine Form der Interpretation, aber auch eine Form der Aneignung und Demarkierung von Territorium. Diese Demarkierung tauchte bereits in Self Portrait auf: Das junge Mädchen, das, glaubt man dem Titel, die Künstlerin darstellen soll, schnitzt vor den Augen ihres Begleiters oder ihrer Begleiterin etwas in die Rinde eines Baumes. Jedoch entstammt diese elegisch anmutende Szene einer universellen Kultur. Trackers beschreibt nicht ein Gebiet, das durch das Spiel verklärt wird, sondern es beschreibt das Schwanken zwischen Aneignung und Entfremdung, das für die Sozialpsychologie kolonialer Verhältnisse charakteristisch ist (Ahlam Shibli hat Franz Fanon gelesen).

Bei Eintritt in die israelische Armee erhält der Beduine das Recht auf ein Stück Land, er kann dort ein Haus bauen und ungehindert fotografische und andere Zeugnisse seiner militärischen Erfolge ausstellen. Ahlam Shibli wollte Nutzen und Preis dieser Treue gegenüber den Herren zeigen. Für sie ist die Loyalität gegenüber einer unterdrückten nationalen Tradition nicht automatisch mehr wert als Opportunismus: Tradition kann zu Verblendung und Untätigkeit beitragen. Shibli hat junge Landbewohner aufgesucht, die auf Urlaub in ihre Heimat zurückgekehrt sind, und sie zeigt diese Seite an Seite mit den Ältesten in unebenem, steinigen Feld oder auf dürrem Land bei der Pferdezucht. Einer dieser jungen Männer, er trägt ein T-Shirt mit der Silhouette eines wilden Tieres, taucht gleich drei Mal auf, zwei Mal mit seinen Pferden und das dritte Mal als pflichtbewusster Sohn an der Seite seines Vaters, der in der israelischen Armee Karriere gemacht hat (wie man unschwer an dem um den Hals hängenden Sturmgewehr erkennen kann). Dieses Foto ist mit seiner Vergrößerung das Pendant zum Bild des Ausbilders, das die erste Sequenz eröffnet. Im Skript folgt ihm eine Gruppe von Gräberfotos, die die Trennung der Kämpfer in "arabisch-israelische" Soldaten (so die offizielle Terminologie) auf der einen Seite und die Mitglieder einer palästinensischen Kommandogruppe auf der anderen noch einmal verdeutlicht.[6] Diese Sequenz steht im Zentrum der Erzählung und erinnert so präzise und nüchtern an die Sanktionen eines Bruderkriegs. Das Gegenüberstellen von Bildern drückt eine Konfrontation der Sprachen (arabisch, hebräisch) und der Begräbnissymbole aus. Der Betrachter, der diese Sprachen nicht kennt, spürt die Unverständlichkeit des Konflikts der Interpretationen, der dem territorialen Konkurrenzkampf zugrunde liegt.

Die zwei Plastikstühle vor einer Reihe von schattigen Gräbern bezeugen die enge Koexistenz von Lebenden und Toten, man mag sogar von einem anhaltenden Dialog jenseits des Grabs sprechen. Die kontemplative Stille dieser Bilder entstammt den geheimnisvollen Tiefen einer Erzählung, die sich von den Normen spektakulärer Nachrichten absetzt; für sie ist ein Erfahrungsdokument wichtiger als die Präsentation vorgeformten diskursiven Wissens. Vom Standpunkt der Medien aus, die dramatische Ereignisse bevorzugen, lässt sich die lange Serie von sich ausruhenden Soldaten, die der Gräbersequenz folgt, nicht rechtfertigen. Aber sie entspricht dem Militäralltag mit seinen langen Phasen des Wartens und der Untätigkeit (ähnlich der Dreharbeiten zu einem Film), und sie führt das wie eine Metapher wiederkehrende Bild des dem Tod ähnelnden Schlafs in die Erzählung ein. Wie alle Künstler, die im und nicht für das aktuelle Tagesgeschehen, in der Gegenwart und nicht zu Informationszwecken arbeiten, weiß Ahlam Shibli, dass sie Distanz schaffen und verharren muss und sich nicht von der Dringlichkeit des Augenzeugenberichts beherrschen lassen darf. Die Geschichte der Region hat sie gelehrt, wie wichtig Modelle zur erzählerischen Aneignung der Vergangenheit sind, aber sie hat sie auch gelehrt, wie riskant es sein kann, den Aufrufen zu Zeugenaussagen von militanten Ideologien zu folgen, wenn diese die Opfer wahllos heiligen. Ich weiß nicht, ob Shibli wie Mahmoud Darwish sagen würde, dass "die Vergangenheit die standhafteste aller Zeiten ist" und dass "jede Vergangenheit sich sofort in kollektives Bewusstsein verwandelt."[7] Fest steht jedoch, dass das Verfahren der sofortigen Aufnahme, selbst wenn es von einem Skript gelenkt wird, einen Bezug zum aktuellen Geschehen voraussetzt, der der einer verzögerten Interpretation ist: Jedes Bild von aktuellen Nachrichten ist eine zukünftige Vergangenheit, die dann kommen wird, wenn die Gegenwart als vergangene Zukunft gelebt wird.

Auch wenn er die Einnahme Palästinas durch den jüdischen Staat verurteilt, sieht Darwish dieses Territorium als "das Land der Erzählung". Diese Formulierung im Superlativ, die unter anderem die Bibel als Autorität anerkennt, schließt die Poesie des Alltäglichen nicht aus. Diese Poesie ist der Gebrauch einer Sprache, die nicht der Ideologie des Siegers dient – nicht so sehr, weil sie die Sprache der Besiegten ist, sondern weil sie eine andere Form ist, Geschichte zu erzählen und von sich in der Geschichte zu erzählen. Eine Poesie des Widerstands kann nur dann einen Bezug zur Macht aufbauen, wenn sie auf einer Erfahrung der Subjektivierung beruht, die über vordefinierte kritische Haltungen hinausgeht. Trackers ist ein Dokument einer solchen Erfahrung. Es integriert in die autobiographische Geschichte Ahlam Shiblis Bilder, die die Rolle von Identifikationsnormen in den Mechanismen der Dominanz veranschaulichen. Diese Spannung wird insbesondere dann spürbar, wenn man die Interaktion betrachtet zwischen Bildern der Fotografin und solchen, die bei den Familien der Soldaten an den Wänden hängen.

Ich kehre zum Schluss zu meinen einleitenden Bemerkungen zurück. In der Konfrontation mit Normen, die ihr fremd sind – man muss nur die Bildersprache von Self Portrait mit den Trophäenbildern, arabisch-israelischer' Soldaten vergleichen –, hat Ahlam Shibli ihre geografische Vermessung des palästinensischen Lebensraums fortgeführt und die Wohnverhältnisse durch Gesten und Körperhaltungen ersetzt. Die in Bildern ausgedrückte Geografie ist auch ein Schreiben mit dem Körper. Wenn seine ideale Schlagkraft durch die Fotografie gegenwärtig wird, kann der Blick Wände durchdringen; die Erzählung jedoch schafft Schwellen, und diese sind auf geteiltem Gebiet ganz besonders spürbar. Jede Arbeit an Subjektivität in einem kolonialen Kontext ist, wenn sie auf Fremdheit weder herumreitet noch sie austreibt, ein Prozess interner Dekolonisierung. Ahlam Shibli beschreibt minutiös das Gerüst und die Transparenz von Zelten im Ausbildungslager. Dieses eindringliche Bild der Beziehung von innen und außen kann als Paradigma gelten für ein Nachdenken über Identität, das die herkömmlichen Aufteilungen zu überwinden sucht.





This essay was published in:

Ahlam Shibli: Trackers. Edited by Adam Szymczyk. Exh. cat. Kunsthalle Basel. Cologne: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2007. (Essays by: John Berger, Jean-François Chevrier, Okwui Enwezor, Rhoda Kanaaneh, and Adam Szymczyk.)



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